„What are you doing here? This is the ass of the world!“ schmettert uns Sam, einer der wenigen Englisch sprechenden Kasachen, die wir auf unserer Reise treffen, mit der Unbedarftheit eines 17-Jährigen entgegen. Zum ersten Mal an diesem Abend verstummt die aufgedrehte Horde Halbwüchsiger um uns herum, ist gespannt darauf, weshalb man sich freiwillig hierher begibt. Sam ist der Einzige von ihnen, der nach den Sommerferien studieren wird und es herausgeschafft hat aus Priosersk, einer kleinen Siedlung am Ufer des Balkaschsees. Zu Zeiten der Sowjetunion stand Priosersk für Raketenforschung, anstelle des Ortsschildes befand sich eine Schranke. Heute zeugen heruntergekommene Kasernen und eine verwaiste Allee, gesäumt von Raketen und Panzern, vom kalten Krieg und dem Zerfall der UdSSR.
Sam trägt einen Pulli mit der Aufschrift seiner Boarding School und reicht seinen Freunden weltmännisch Zigaretten, obwohl er nicht raucht. Er gehört zur Elite des Landes. Doch vom Aufschwung, den Uran, Öl und Gas Kasachstan bringen, profitieren nur wenige. Wir passen nicht ins Bild, unsere Antwort auf Sams Frage noch weniger: „Surfing“, sagen wir mit bemühter Beiläufigkeit, als könnten wir verhindern, von der Gruppe Jugendlicher augenblicklich zu einer Mischung aus Marsmenschen und geistig Verwirrter erklärt zu werden. Dass wir erst 24 Stunden zuvor vom rund 1600 Kilometer entfernten Aralsee aufgebrochen waren, verwundert dagegen niemanden. Das Verhältnis zu Distanzen scheint ein anderes in einem Land von der Größe Europas und der Besiedelungsdichte Grönlands.
Surfing“, sagen wir mit bemühter Beiläufigkeit, als könnten wir verhindern, von der Gruppe Jugendlicher augenblicklich zu einer Mischung aus Marsmenschen und geistig Verwirrter erklärt zu werden.
Grenzerfahrungen statt grenzenloser Freiheit
Auch wir mussten diese Lektion erst schmerzlich erfahren. Denn statt grenzenloser Freiheit brachte uns die Weite Kasachstans nicht selten Grenzerfahrungen. Der Hunger nach Unbekanntem wich nach kurzer Zeit dem Hunger nach einer warmen Mahlzeit und die Idee, unerschlossene Surfspots zu entdecken, erschien uns vor dem Hintergrund launischer Windvorhersagen, gewaltiger Entfernungen und schlechter Straßen als immer irrwitziger. Natürlich konnte die eigentliche Antwort auf Sams Frage nicht nur „Surfing“ lauten. Vielmehr ging es um eine Art surferische Erstbesteigung.
Doch schon die Fahrt zum Aralsee führte uns eindrucksvoll vor Augen, dass man den Gipfel eines Siebentausenders nicht in Flipflops und ohne Bergführer erreicht, und auf einen strapaziösen Aufstieg nicht automatisch eine Abfahrt im frischen Powder erfolgen muss.
Expedition Aralsee
Wir starten unseren Trip in Almaty, der ehemaligen Hauptstadt des Landes. Durch die Kessellage inmitten schneebedeckter Berge schwebt ein gewisser Charme über der lauten Metropole, vor allem aber auch ein schier unerträglicher Smog. Die kasachische Bevölkerung nutzt meist ihren Plastikmüll, um Öfen, Grills und Kochherde zu befeuern. Den anfänglichen Plan einer Nacht „Party in Almaty“ verwerfen wir allzu bereitwillig, arbeiten stattdessen in Rekordzeit unsere Liste ab: Pick-up mit Allradantrieb, Simkarte mit Datenvolumen zur Navigation, minimalistische Campingausrüstung – mehr benötigen wir nicht für zweiwöchige Unabhängigkeit.
Mit jedem Meter, den wir uns vom Großstadtdschungel in Richtung Aralsee entfernen, wird die Luft besser, der Verkehr dünner und die Landschaft öder. Noch vertrauen wir den Windvorhersagen im Internet und fahren getrieben von einem 30-Knoten-Versprechen fast einen Tag durch. Immerhin – an einem Badeweiher, den wir auf dem Weg passieren, reicht die abendliche Brise für eine Slalomsession und ein paar Schläge mit großem Freestylematerial. Auch in der Stadt Aralsk, einem traurigen Überbleibsel des „alten“ Aralsees, begrüßen uns vier Windstärken.
Statt die Vorräte aufzufüllen, machen wir uns sofort auf zum See, schließlich ist es erst früher Nachmittag und das Wasser für kasachische Verhältnisse greifbar nah. Lag Aralsk einst direkt am namensgebenden See, trennen es heute etwa 30 Kilometer Luftlinie von der Wasserkante. Andernorts macht sich der Wasserrückgang sogar sehr viel drastischer bemerkbar. Insgesamt ließ extensiver Baumwollanbau zur Zeit der Sowjetunion den See auf einer Fläche von der Größe der Niederlande austrocknen.
Lebenserwartung von 42 Jahren - Atombombentests haben Kasachstan zerstört
Überall in Kasachstan haben das Wettrüsten des Kalten Krieges und die Umweltpolitik der Planwirtschaft verbrannte Erde hinterlasssen. Im Nordosten explodierten über 500 Atombomben, unterirdisch, überirdisch und atmosphärisch. Auf einer Insel im Aralsee, die nun trocken liegt, wurden die größten B-Waffenversuche der UdSSR realisiert. In der Region liegt die Lebenserwartung auch heute noch bei 42 Jahren. Es wäre damals ein Leichtes gewesen, das dünn besiedelte Land um Semipalatinsk soweit zu evakuieren, dass niemand leiden muss. Doch wieso sollte man das tun, wenn man die Folgen massiver Strahlenbelastung und medizinische Neuentwicklungen auch gratis testen kann?
Auch der Baumwollanbau am einzigen Zufluss zum Aralsee wurde ohne Rücksicht auf die Umwelt durchgeführt. Die baumwollverarbeitende Industrie braucht sehr viel Wasser – so werden vom Anbau der Baumwolle bis hin zur Fertigstellung einer Jeans etwa 20.000 Liter Wasser benötigt. Aufgrund der rücksichtslosen Umweltpolitik der Sowjets gelangten auch sämtliche Pestizide der Landwirtschaft und Chemikalien der Baumwollverarbeitung ungehindert in den See und machten ihn lange Zeit unbrauchbar für den Fischfang. Zumindest der Nordteil des Sees gilt inzwischen aber als erholt, und auch wir sehen in der Region immer wieder Fischer. Ein mulmiges Gefühl jedoch bleibt.
Autofahren in Kasachstan: Keine Schilder, keine Straßen
Offizielle Wege zum See, geschweige denn eine Beschilderung, gibt es nicht. Dass das Straßennetz der veränderten Küstenlinie im Lauf der Jahrzehnte nicht angepasst wurde, hat weniger mit Bequemlichkeit zu tun als mit der angesprochenen Wasserqualität.
Für den scheinbar kurzen Weg zum Wasser spuckt Google Maps keine Route aus. Auf einer Landkarte finden wir eine hauchdünn eingezeichnete Straße, die im Kartenmaßstab nur Millimeter vor dem Wasser endet. Im Vertrauen auf unseren Offroader folgen wir dem Weg, dem einzigen, der im gesamten Nordteil des Aralsees überhaupt als solcher auf der Karte eingezeichnet ist. Nach 80 Kilometern endet die holprige Dirtroad in einem Fischerdorf, dahinter verläuft sie im Sand. Mehrere Spuren gehen ab, wir haben die Qual der Wahl. Nach Himmelsrichtung geht es weiter, vom Wasser jedoch keine Spur. Mit einsetzender Dämmerung beenden wir Versuch eins, den Aralsee zu besurfen und schlagen unser Zelt in atemberaubender Kulisse auf einer ehemaligen Insel des Sees auf, die nun gut 50 Meter über der Salzwüste ragt.
Bei Sonnenaufgang werden wir von der wild umherschlagenden Zeltplane geweckt und dem deprimierenden Bild eines platten Hinterrades. Nach dem Reifenwechsel ohne Reserverad, Essensreserven oder Mobilfunknetz weiterzufahren erscheint uns zu riskant, so dass wir bei stürmischem Wind den Rückzug nach Aralsk antreten – eine gute Entscheidung, denn auf dem Weg dorthin verliert ein weiterer Reifen Luft.
Eine Horde Kinder belagert die Windsurfer wie Marsmenschen
Erst am nächsten Tag starten wir mit neuem Proviant und vermeintlich gut bereift zu Versuch drei in Richtung See. Es ist windig. Als uns auf halber Strecke die dritte Reifenpanne ereilt, verkommt die Situation zum Sozialexperiment. Seit Tagen waren wir unterwegs zum Aralsee, hatten kaum geschlafen, wenig gegessen, und noch nicht einmal das Wasser gesehen. Würden wir nun umkehren, bedeutete dies das Ende der Mission Aralsee, denn unser Zeitplan in Kasachstan war eng bemessen und jeder von uns gierig darauf, die Einöde Arals in Richtung des saftig grünen Osten des Landes zu verlassen. Wir entschieden uns fürs Weitermachen, denn im Vergleich zu den Vortagen hätten wir im Falle einer weiteren Panne immerhin genügend Vorräte für mehrere Tage und einen langen Fußmarsch.
Als uns auf halber Strecke ans Wasser die dritte Reifenpanne ereilt, verkommt die Situation zum Sozialexperiment.“
Als wir Stunden später am Wasser des Aralsees stehen, hat sich der Wind gelegt. Doch ums Surfen geht es schon lange nicht mehr. Spiegelglatt liegt der See vor uns, während sich die Wolken bis zum Horizont im Wasser reflektieren. Es ist ein magischer Moment, der jedoch nicht lange währt. In voller Euphorie schlagen wir das Zelt am Ufer des Sees auf. Als ich für eine Runde aufs SUP-Board steige, bin ich schlagartig umgeben von einer Horde gröhlender Kinder, deren Väter zum Fischen auf den See gefahren sind. Adi, der vom Ufer aus versucht, Fotos mit der Drohne zu schießen, wird genauso belagert. Innerhalb kürzester Zeit hat die Zwergengang seinen Freestyler gekapert, ohne Entlüftungsschraube zu Wasser gelassen, seine Drohne zum Absturz gebracht und im See versenkt. Gleichzeitig versuchen zwei andere Gangmitglieder, unser Auto zu starten. Noch vom Wasser aus lege ich mir einen pädagogischen Vortrag zurecht, resigniere an Land jedoch angesichts der leuchtenden Kinderaugen, die wohl nur selten Marsmenschen wie uns zu Gesicht bekommen. Mit der Dunkelheit ist die Zwergenbande verschwunden, dafür kommen die Mosquitos.
Es sind so viele, dass wir zum Kochen ins Auto flüchten, das sich in kürzester Zeit zur Dampfsauna entwickelt. Draußen streift eine wilde Kuhherde um unser Zelt. Wir können nicht mehr anders, als zu lachen. Bei Flaute packen wir am nächsten Tag unsere Sachen. Schade, nach all den Strapazen hätte keiner von uns eine Surfsession verschmäht, zumal die Windvorhersage vielversprechend war. Zwei Stunden später, zurück in Aralsk, ballert es aus allen Rohren. Wir ignorieren die alten Fischerlegenden, die von bis zu sieben Meter hohen Wellen auf dem Aralsee berichten und machen nicht noch einmal kehrt.
Polnische Salzstreuer
Auf dem Weg zum Balkaschsee treffen wir auf einen polnischen Touristen, der auf dem Fahrrad unterwegs ist. Er berichtet von einem Tal nahe der chinesischen Grenze, in dem der Wind häufig so stark gewesen sei, dass er ihn zum Absteigen zwang. Ja, einen See gäbe es dort auch. Wir werden hellhörig und checken die Topographie des Ortes. Alles wirkt wie das perfekte Thermik-Tal: Hügel zu drei Seiten, eine weite Ebene zur anderen, alles in Nord-Ost-Achse ausgerichtet, der vorherrschenden Grundwindrichtung im kasachischen Sommer. Dazu stolpern wir bei unserer Recherche über einen Artikel im Internet: Der ursprüngliche Name des Sees bedeutet übersetzt „Wind-See“. Nicht selten, so wurde geschrieben, erreichen die Windgeschwindigkeiten dort Hurrikan-Stärke.
Für uns gibt es kein Halten mehr und schon sind wir auf dem Weg nach Südosten. Am See angekommen verdunkeln Regenwolken die Sonne – nach unserem Gardasee-Wissen ist das kein gutes Zeichen. Das Wasser ist spiegelglatt, obwohl wir an Land Kasachstan-typische drei bis vier Windstärken vermuten. Adi wagt einen Ritt mit seinem Slalommaterial und wird belohnt. Er fliegt übers Wasser, der Wind scheint draußen stärker zu sein als vermutet. Nach einem Schleudersturz steuert er abrupt zurück zum Ufer und verlässt den See mit schmerzverzerrtem Gesicht. Das Geheimnis um die seltsam glatte Wasseroberfläche ist gelüftet, als Adi wie ein Verdurstender nach Wasser schreit und sich die Augen reibt. Wir fragen uns, ob man den See nicht netterweise „Salz-See“ hätte nennen können.
Powder-Abfahrt am Balkaschsee
In Kasachstan gibt es keine echten Wahlen, keine echte Demokratie, keine reale Pressefreiheit. Nach der Wende hat der Kommunist Nassarbayev seine grünen KPSS-Socken gegen Louis-Vuitton-Anzüge getauscht und ein autokratisches Regime etabliert, Korruption ist absolute Normalität. Neben unzähligen Schlaglöchern bremsen uns auf unserem weiteren Weg zum Balkaschsee fünf Polizeikontrollen aus. Schnell wird klar, dass es keinen Touristenbonus gibt und eigentlich nur um Schmiergeld geht. Dank unseres Verhandlungsgeschicks kommen wir statt der geforderten 200 Dollar jeweils mit 200 Tenge aus der Sache raus, das sind umgerechnet 50 Cent. Am See angekommen, treffen wir auf Sam. Er und seine Freunde verweisen uns zum Zelten auf einen nahegelegenen Strandabschnitt. Es ist der einzige Sandstrand des Sees – Sandy Beach. Nach Angaben von Sams Freunden sollen hier ab und an sogar Wellen brechen.
Die Polizisten wollen 200 Dollar von uns. Wir verhandeln und kommen schließlich mit 200 Tenge davon, das sind umgerechnet 50 Cent.“
Die Vorhersage für den nächsten Tag kündigt 20 Knoten aus Nordost an. Bei Ausrichtung und Größe des Sees bedeutet dies rund 150 Kilometer Fetch, das schaffen selbst die heimischen Ostsee-Spots nur selten. Doch was hieß das schon bei allem, was wir bisher erlebt hatten. Am nächsten Morgen wachen wir von einem lauten Dröhnen auf. Das Zelt fliegt uns fast um die Ohren, als wir das 4,2er aufbauen. In kopfhohen Wellen und Side-onshore-Wind springen wir Backloops und vergessen völlig, dass wir hier gerade an einem See sind. Wir hatten unseren Gipfel endlich bestiegen. Dabei hätte sich der Aufstieg auch ohne die grandiose Abfahrt gelohnt.
Leider hatten wir nach 6500 Kilometern und zwei Wochen in Kasachstan auf der Straße nicht mehr genug Zeit, um auch den Alakol-See zu besuchen. Seine Heilkraft ist heute wissenschaftlich bestätigt – er war ein beliebter Rastplatz für die Reisenden auf der Seidenstraße. Durch die Dshungarische Pforte hindurch fällt der Ebe-Wind von China über den See ein – eine Art Föhnsturm, der Windgeschwindigkeiten von bis zu 50 m/s bringt. An guten Tagen brechen 2,5 Meter hohe Wellen am Nordwestende des Alakol – so sagt man.
Es sieht so aus, als müssten wir nochmal wiederkommen zur Erstbesurfung.
Dieser Artikel erschien erstmals in surf 1-2/2018