Text: Max Matissek
Alt Erlaa mit seinen gigantischen Wohnbauten kenne ich aus meiner Kindheit. Meine Tante war eine der knapp 13000 Menschen, die hier leben. In meinen Erinnerungen spiele ich stundenlang auf ihrem roten Perserteppich im Wohnzimmer mit meinen Cousinen Lego. Doch dieses Mal war alles anders. Ich kam zurück, um im 30. Stock auf dem Dach des Gebäudes zu windsurfen.
Der Wohnpark Alt Erlaa in Wien wurde in den 1970er-Jahren als Projekt der staatlichen Genossenschaft Gesiba erbaut und ist eine der größten Wohnbauanlagen Österreichs. Er gilt als Vorzeigemodell einer Satellitenstadt in der Stadt – mit vollständiger Infrastruktur.
Die drei gewaltigen Gebäudezeilen erfassen jeweils eine Länge von 400 Metern. Wenn man aus der U-Bahn-Station Alt Erlaa aussteigt und durch den Kaufpark, ein Einkaufszentrum, geht, dann entdeckt man schnell den besonderen Charme der Anlage: Hier wohnen Menschen unterschiedlichster Herkunft, aller Altersstufen und Glaubensrichtungen friedlich zusammen.
Spot-Check über den Dächern Wiens
Ich ging an einem Wiener Cafehaus vorbei, in der gerade ein paar Hackler (Arbeiter) an der Bar saßen. Sie rissen Stücke von ihrer Semmel, tunkten damit ihr Gulasch auf und tranken zufrieden an ihren Seiterln. Eine reifere und auffällig gekleidete Dame mit rot gefärbtem Haupthaar drängte sich an mir vorbei und zog dabei genüsslich an ihrer Tschick (Zigarette). Dahinter traf ich auf zwei ergraute Herren – Herr Pausackl und Herr Heiss. Nach etlichen Telefonaten und einem Überzeugungskraftakt hatte ich es geschafft, die Hausverwaltung von Alt Erlaa für mein neues True Wind-Projekt zu begeistern. Wir begrüßten uns und gingen weiter in Richtung Block C, wo ich einen ersten Spotcheck durchführen wollte. Dabei erzählten sie mir Geschichten über den Wohnpark und ich ihnen über True Wind:
Bei meinem True Wind-Projekt geht es darum, andersartige Windsurf-Bilder zu schaffen, in Umgebungen Windsurf-Moves zu machen, an denen es eigentlich unmöglich ist. Ein True Wind-Bild soll eine ganz spezielle Story erzählen. Man soll zwei Mal hinsehen müssen, bevor man es versteht und am besten nach dem zehnten Anschauen immer noch etwas Neues entdecken können.
Andere Bilder als Strand und Palmen
Nach 16 Jahren, in denen ich nun windsurfe, habe ich erkannt, dass sich die klassischen Fotos von Windsurfern auf Hawaii oder in Kapstadt einfach immer wiederholen. Die Action ist zwar großartig, jedoch verändert sich von Bild zu Bild und Jahr zu Jahr meistens nur die Farbe des Segels und maximal der Surfer selbst. Versteht mich nicht falsch, Maui und Kapstadt sind Windsurfmekkas, sie liefern grandiose Bedingungen, und die Action auf dem Wasser ist toll. Ich reise selbst jeden Winter nach Südafrika und mache dort Bilder und Videos, aber mit der Zeit wuchs in mir der Wunsch, mal etwas Anderes zu machen.
Ich wollte in meinen Fotos mehr als nur Windsurf-Klischees mit Strand und Palmen: Interessante, ungewöhnliche Sachen wie Architektur, Formen, Farben und Menschen in kreativen Umgebungen. So etwas wie Streetstyle beim Snowboarden, Wakeboarden oder Skaten. Durch den Einsatz einer Seilwinde und von Schanzen samt künstlicher Anfahrten bin ich flexibel und kann an Spots windsurfen, an denen es zuvor physikalisch unmöglich war. Dadurch entsteht ein paradoxer Anblick für den Betrachter – windsurfen an Orten, an denen ein Windsurfer normal nichts zu suchen hat.
Die Vorbereitung: MacGyvers Erben
Die beiden Hausmeister nickten überzeugt. Wir befanden uns nun im 27. Stock des C-Blocks. Das ist der westlichste Teil der drei 400 Meter langen Bauten. Der Ausblick über die Skyline Wiens war genial. Ich war begeistert! Hier wollte ich unbedingt surfen und das nächste Bild der True Wind-Serie produzieren.
Ich schlug mit den Männern ein und war voller Vorfreude. Allerdings hatte die Sache einen kleinen Haken: Der Pool war nur 25 Meter kurz. Um genug Speed für einen Move zu kriegen und im Wasser zu landen, bräuchte ich mindestens 40 Meter. Ich wusste, ich musste den Pool irgendwie verlängern. Hatte ich mich mit meiner Zusage bei Genossenschaft und Sponsoren zu weit aus dem Fenster gelehnt?
Ich wollte es unbedingt schaffen, dort oben zu surfen. Ich war irgendwie überzeugt, eine Lösung zu finden, gleichzeitig zweifelte ich aber auch, dass dies funktionieren kann. Ich spielte alle möglichen Varianten im Kopf durch und beriet mich mit Freunden. Ich machte mir Gedanken zu möglichen Anfahrten außerhalb des Pools: Über Rollbahnen, aus einem zusätzlichen Pool, über in Wasser getränkte Kunstfasern, Sommerski-Beläge und so weiter. Aber wie, wo und wann sollte ich das alles testen? Wenn ich es nicht schaffen würde, wäre ich im Arsch...
Doch ich hatte noch ein Ass im Ärmel: Flo Schertler, der Mann, der mir schon beim ersten Projekt – bei dem ich in einem alten Kanal unter der Erde Wiens gewindsurft hatte – innerhalb von drei Tagen eine teilbare Schanze konstruiert hatte. Er ist so etwas wie ein Extrem-Sport MacGyver, hat eine eigene Tischlerei und Spenglerei zu Hause und ich wusste, dass er solche verrückten Ideen liebt. Ach ja, und er wohnt an einem Teich.
„Oida, 25 Meter ist sehr, sehr kurz. Selbst mit einer künstlichen zwölf Meter langen Anfahrt. Das ist ja normalerweise nicht mal bei Hardcore-Hack und Windstärke zehn möglich, in so kurzer Distanz auf Geschwindigkeit zu kommen und einen Move zu machen. Und dann solltest du ja auch im Becken landen und nicht dahinter. Aber komm zu mir – uns fällt schon etwas ein!“
Ein Garten wird für das Projekt planiert
Wir entschieden uns für eine Holzkonstruktion mit Finnenschlitz und Leitplanke und begannen sofort mit den Tischlereiarbeiten. Beim Oberflächenmaterial einigten wir uns auf dünne Kunststoffplatten, welche wir schon zuvor für meinen True Wind-Kicker im Untergrund Wiens verwendet hatten. Wir wussten, dass das Material rutschig ist, wenn man mit dem Windsurfboard und Top-Speed darüber fährt. Ob der Widerstand der Platten jedoch auch ein schnelles Wegfahren zulassen würde, blieb zunächst ein großes Fragezeichen.
Da wir die Anfahrt testen wollten und der Untergrund genau so eben sein musste wie später auf dem Dach, planierten wir die Erde neben Flos Teich mit einem Bagger, zogen zwei zwölf Meter lange Metallschienen in Position und bauten die Anfahrt darauf. Doch nach den ersten Tests kam die große Ernüchterung: Obwohl die Seilwinde Vollgas gab, war die Beschleunigung auf der Anfahrt einfach zu schlecht. Zwölf Meter Holzrampe plus die Hälfte des Pools waren scheinbar einfach zu wenig. Wir hatten nur noch ein paar Tage bis zum Dreh und mussten uns was einfallen lassen.
True Wind oder true fail?
Tag der Entscheidung, 6:15 Uhr. Wir hieven mein Surfboard, Mast, Gabelbaum und Segel die kalte, rostige Feuerleiter hinauf. Wir befinden uns auf der höchsten Spitze des Gebäudes jenseits von Stock 27. Für den Outro-Shot des Videos soll ich – ähnlich wie Batman mit seinen gespreizten Fledermausflügeln – an der Dachkante im Sonnenaufgang stehen und über Wien blicken.
Der Morgentau macht die metallene Kante, auf die ich steigen werde, ein bisschen rutschig. Daneben geht es 100 Meter in den Abgrund. Die Windböen sind schwach, kommen aber unregelmäßig von verschiedenen Seiten und machen alles ein wenig unberechenbar. Während ich mein Material aufrigge, merke ich, dass sich eine gewisse Anspannung in mir aufbaut. Ich blicke vorsichtig in die Ferne und balanciere mein Material behutsam am Steg entlang, bis wir nach 30 Minuten das erste Foto im Kasten haben.
Leider kam es in der Geschichte von Alt Erlaa schon des Öfteren vor, dass sich jemand von hier aus in den Tod stürzte. Kein Wunder also, dass innerhalb kürzester Zeit mehrere Anrufe aufmerksamer Bewohner bei der Hausverwaltung auflaufen und uns sofort das Sicherheitspersonal am Wickel hat.
Wiener Originale als Statisten
7:30 Uhr: Das gesamte Team befindet sich nun versammelt auf Block C, wo wir den Haupt-Shot machen wollen. Das Setup steht soweit: Seilwinde, Pool und natürlich die Anlaufbahn.
Bevor es losgeht, spraye ich noch „True Wind“ mit schwarzen Montanas unter den Pool. Ein letztes Mal spreche ich alles mit den Fotografen Ulrich Sperl, Rudy Dellinger und Vincent Forstenlechner durch und koordiniere mit Kameramann Philipp Reiterer von „Enjoy the Soup“ den Ablauf. Die Statisten für die Bilder treffen ein: Die rothaarige Dame Sigie ist um die 70 und unglaublich jung geblieben. Sie weiß, wie man mit Surfern flirtet und raucht natürlich wieder Kette. Bertl ist 60 Jahre alt, Sonnenanbeter und einer der wichtigsten Männer der Wohnanlage: Der Hausmeister. Beide sind Urgesteine Alt Erlaas und meine Wunsch-Charaktere für Bild und Video.
Das Set wird immer größer, neben meinen tollen Helfern und den Kameraleuten gesellen sich noch ein paar Offizielle der Wohnanlage dazu. Alle sind auf den ersten Versuch gespannt. Wird es funktionieren?
Mit Spüli ins Glück gesurft
8:00 Uhr. Die finale Geheimzutat, Spülmittel, kommt zum Einsatz, sie soll das Rezept für True Wind II perfektionierten und dafür sorgen, dass ich auf der zwölf Meter langen Anfahrt diesmal besser beschleunigen kann – wenn alles passt, habe ich beim Absprung dann 50 km/h auf dem Tacho. Ich besprühe also mein Board damit, schütte einen Eimer Wasser über die Anfahrt und gehe sicher, dass diese vollständig benetzt ist – schließlich will ich es auf jeden Fall vermeiden, irgendwo vor dem Pool stecken zu bleiben und zu crashen.
Nach dem Cross-Check bin ich „ready to go“, stehe mit beiden Füßen in den Schlaufen, halte mit einer Hand mein Segel und in der anderen den Griff des Seiles. Ich gebe Matthias Erlacher an der Winde ein Zeichen. Er gibt Vollgas. Der Moped-Motor der Seilwinde dreht hoch und heult zwischen den Windschutzwänden des Pools laut auf. Das Board beginnt leicht zu rutschen, die Spannung an meinem gestreckten Arm wird immer stärker. Mit dem anderen Arm halte ich das Segel eng am Körper, um mit den 4,4 Quadratmetern Segelfläche gleich möglichst wenig Widerstand im Fahrtwind zu erzeugen. In diesem Moment kommt es mir immer so vor, als würde sich die Oberfläche meines Surfbretts in Zeitlupe über den dünnen Wasserfilm auf den Platten schieben – wie ein Katapult, das man nach unten spannt, bevor es die Last wegschießt. Den Bruchteil einer Sekunde später schnalze ich los. Mit meinem vorderen Bein presse ich den Bug meines Fanatic Skate gegen die Seitenwand, um Kontrolle über das Material zu bekommen und um mich auf den Drop in den Pool, vorzubereiten. Ich konzentriere mich auf meine Körperspannung. Das Board muss beim Übergang ins Wasser möglichst flach aufkommen, um die maximale Geschwindigkeit mitzunehmen und weiter zu beschleunigen.
Nach genau 12,5 Metern muss ich abspringen. Ließe ich zu spät aus, könnte ich nicht mehr abbremsen und würde gegen das andere Ende des Pools krachen. Also halte ich meinen Fokus, um den Absprung zu koordinieren.
Als ich den Griff der Winde loslasse, ziehe ich mein Rigg noch ein Stück enger an meinem Rumpf und schiebe es nach vorne in den Fahrtwind. Ich springe ab und der plötzlich auftretende Gegendruck in meinem Segel katapultiert mich blitzschnell aus dem Wasser.
Abstrakte Realität
Wir jubeln! Alle sind sichtlich erleichtert und überrascht, wie gut es funktioniert hat. Den Rest des Tages wiederhole ich alles an die hundert Male, bis alle Fotos aus unterschiedlichsten Perspektiven im Kasten sind. Mein Team unterstützt mich und feuert mich gehörig an.
Als ich nach einem langen Tag nach Hause komme, bin ich überglücklich über die gelungene Aktion und dankbar über die schönen neuen Erfahrungen. Ich bin geflasht, dass diese abstrakte Idee Wirklichkeit werden konnte. Und das verdanke ich meinem großartigen Team, welches von Beginn an mit mir an einem Strang gezogen hat.
Als ich todmüde ins Bett falle, träume ich bereits von True Wind III. Wer weiß an welchen ungewöhnlichen Spot es mich dann verschlägt.
Dieser Text erschien erstmals in surf 3/2017