Frühjahr 2017 – History Special im surf Magazin. Ein Büro weiter kann mein Chefredakteur Andreas Erbe kaum noch über die Stapel alter surf-Hefte nach draußen gucken. Seit er das Archiv nach den abgefahrensten Erfindungen in der 50-jährigen Geschichte des Windsurfens durchforstet, wächst der Berg an Magazinen, Dias und gelben Post-it-Zetteln auf seinem Schreibtisch jeden Tag weiter in Richtung Decke. In schöner Regelmäßigkeit stattet er mir einen Besuch ab, um seine „neuesten“ Funde zu präsentieren: „Schau mal, das Tinkler-Tail, das hatte ich auch! Hier, eine Football-Finne, Wahnsinn! Und das ist ein Kanalbeschlag von den Charchulla-Zwillingen, mit dem Ding sind die im Mai 1975 als Erste über den Ärmelkanal gesurft.“ Als Redakteur mit Mitte 30 nicke ich artig und verstehe nur Bahnhof. Das Erste, woran ich mich erinnere, ist ein surf-Cover aus den späten 80ern. Ein Surfer schwebt dort unter einer Art Drachen scheinbar schwerelos durch die Luft. Sowas sollte doch in keinem History Special fehlen! Und was ist überhaupt daraus geworden?
Die Suche führt uns zu Uli Stanciu, Chefredakteur bei surf von 1977 bis 1989: „Ja, das war die Wind Weapon von Tom Magruder, eine Mischung aus Surfsegel und Drachen. Ich hatte bereits Jahre vorher mit Jim Drake ein Drachensegel namens „The Wing“ entwickelt, welches man frei über dem Kopf hielt. Magruder verband dann den Drachen über einen festen Mast mit dem Brett, was die Sache wesentlich vereinfachte. So ein Teil liegt, glaube ich, noch auf meinem Dachboden. Wollt ihr es ausprobieren?“ Es dauert nicht lange, dann ist sie tatsächlich da – die legendäre Wind Weapon. Am Tragegriff hängt noch das Gepäcklabel vom Flughafen, handgeschrieben: Flug United Airlines UA 33-55-59.
Mission 1: Puzzlen
Nun stehe ich mit meinem Kumpel Marius Gugg, Worldcup-Pro Vincent Langer und Fotograf Oli Maier am Strand von Heiligenhafen. Tasche auf und erst mal alles raus. Kurze Zeit später sind wir umringt von diversen Alurohren unterschiedlicher Länge, Flügelsegel in mehreren Größen, Trimmhaken aus Plastik, einem Gabelbaum mit drei Holmen und knapp 20 vorgewölbten Segellatten aus Alu. Während ich versuche, einen ersten Überblick zu bekommen, begutachten die anderen den 30 Jahre alten Mastfuß. Mit sowas würde sonst nicht mal Marius rausgehen – und der kennt sich mit Surf-Antiquitäten wahrlich aus, könnte er doch mit dem Inhalt seines Surf-Kellers problemlos ein Surf-Museum eröffnen.
Auch mein Hinweis, dass der Mastfuß „neu und unbenutzt“ ist, überzeugt die beiden nicht gänzlich. Nach zehn Minuten Aufriggen sind wir genauso weit wie vorher. Plug & Play war damals anscheinend noch ein Fremdwort. Dass man sich beim Bedienen der Alu-Druckknöpfe gleich mal die Fingerkuppen absenst, wurde früher scheinbar ebenfalls achselzuckend hingenommen. „So‘n Profil haben meine Racesegel nicht“, stellt Vinc beim Anblick der Latten beeindruckt fest. Ich beschließe, die Verhandlungen über den Kaufpreis auf später zu verschieben.
Plug & Play war in den 80er offensichtlich noch ein Fremdwort
So langsam verstehen wir das Prinzip beim Aufbau, und während wir die letzten Teile des Puzzles zusammenfügen, holt Marius schon mal die Boards. 2018er-Modelle, nagelneu. Keine Sau interessiert sich dafür, stattdessen tummelt sich um die Wind Weapon eine illustre Runde Hobbysurfer, die alle mit Rat und Tat zur Seite stehen. Jeder, der hier aufbaut, kommt mit großen Augen angelaufen. Alle über 50: „Boooah, eine Wind Weapon!“ Geil!“. Das Jungvolk vermutet indes, dass das ein Prototyp sei und will wissen wann diese Neuheit denn auf den Markt kommt. Generationensache eben.
Mission 2: Raus aus der Windsurf-Denkweise
Bevor es aufs Wasser geht, machen wir uns schlau. Wir sind ja schließlich keine Amateure und wollen top vorbereitet aufs Wasser. Ein altes YouTube-Video namens „Tom Magruder and the Wind Weapon“ zeigt den Erfinder bei der Arbeit. Ohne einen besonderen Hintergrund von Aerodynamik zu haben, probierte Magruder in den 80ern mit einem symmetrischen Flügelrigg herum und vertraute dabei einzig auf seine Erfahrung als Windsurfer und Drachenflieger. Im Video brettert er bei 40 Knoten Wind über den Columbia River in Oregon, luvt an, klappt das Flügelrigg in die Waagerechte und fliegt damit wie ein Drachenflieger zehn Meter hoch durch die Luft, um anschließend butterweich zu landen, das Rigg wieder senkrecht zu stellen und weiterzugleiten: „It started as a dream to fly like a sea bird“, verkündet Tom gleich zu Beginn mit dem üblichen amerikanischen Pathos. Zum Halsen klappt sich Magruder die Wind Weapon einfach waagerecht über den Kopf – aus dem Trapez muss er dazu nicht. Alles klar?
Während Oli schon mal seine Kamera im Wassergehäuse verstaut, versuchen wir die Knoten in unseren Gehirnwindungen zu lösen, die das Video hinterlassen hat: Drei Gabelbaumholme auf einer Seite, zum Fliegen das Segel waagerecht stellen, bei Manövern auf keinen Fall schiften, sondern das Ding hochklappen! Na dann... Zu zweit schleppen wir das Ungetüm ans Wasser. Der Westwind pfeift, die Sonne scheint. Marius macht den Anfang. Beachstart? Easy! Kurze Zeit später gleiten wir raumschots raus, er mit der Waffe, ich mit meinem 5,4er-Wavesegel. Wir verfehlen unseren vereinbarten Fototreffpunkt um schlappe 100 Meter. Weil’s so gut läuft, gibt Marius ordentlich Kette und denkt nicht ans Umdrehen. Dann die erste Halse. Knoten im Gehirn, Knoten in den Armen. Marius schiftet, natürlich. Der ungeschützte Alumast kracht mit Karacho aufs nagelneue Brett. Gelächter. Das Rigg verkeilt sich derweil unter Wasser wie ein Treibanker. Marius zerrt, drückt, dreht – nix tut sich. Ich lasse mein Material schwimmen und komme ihm zu Hilfe. Zu zweit zerren, drücken, drehen wir weiter. Puls 180. Endlich kommt sie frei, allerdings liegt alles in Richtung des offenen Meeres und wir wollen ja zurück in Richtung Ufer, wo Oli mit der Kamera wartet. Um in Richtung Land zu starten, macht Marius das, was man als Windsurfer in so einem Fall eben macht: Brett umdrehen, Rigg SCHIFTEN. NEIN!!! Mit lautem Knirschen verewigt sich ein Alu-Druckknopf im Deck. Knoten im Gehirn, Milchsäure in den Armen. Lachen muss jetzt keiner mehr. Nach weiteren zehn Minuten zeigt das Brett endlich zum Strand, das Flügelrigg schwebt „ready to waterstart“ frei in der Luft. Von Marius schauen allerdings nur Arme und Füße aus dem Wasser, der Rest gurgelt irgendwo jenseits von Normalnull. Das Ding stellt sich beim Wasserstart offensichtlich komplett waagerecht und Marius macht keinerlei Anstalten, es aufzurichten. Als er kurz vorm kollabieren ist, versuche ich es, ebenfalls ohne Erfolg.
Mission 3: Wasserstarten
Einige Tage zuvor hatte ich versucht, Tom Magruder im Internet ausfindig zu machen, um einige Tipps von ihm einzuholen. Was muss man beachten? Wie startet man am besten? Wie dreht man um? Ist die Sache gefährlich? Da ich ihn über die üblichen Social-Media-Kanäle und Google nicht ausfindig machen konnte, begann ich Mails an Locals vor Ort, Surf-Communities und Surfshops am Columbia River Gorge zu schreiben, mit der Bitte, man möge mich doch weiterleiten. Zwar schien Tom Magruder noch immer dort zu leben, bekannt zu sein wie ein bunter Hund und man versprach mir, meine Fragen an ihn weiterzuleiten, auf eine Antwort wartete ich allerdings vergeblich.
Der ungeschützte Alumast kracht mit Karacho aufs nagelneue Board. Gelächter.
Angesichts unserer aktuellen Situation erscheint es allerdings auch gut möglich, dass er irgendwann mal unter seiner eigenen Erfindung, beim Versuch zu wasserstarten, ersoffen und den Columbia River runtergetrieben war. In den Videos wurde immer nur gesurft und geflogen, nie gestartet. Irgendwie muss das Teil doch zu wasserstarten sein! In der Ferne leuchtet Olis Helm als kleiner grüner Punkt im Wasser: „Ich habe ein 50mm-Objektiv drauf, springt einfach acht bis zehn Meter an mir vorbei“, war sein Briefing vor dem Start gewesen. Auf der Leeseite wird indes die Fehmarnsundbrücke langsam größer, wahrscheinlich hat am Strand schon ein Touri den Seenotretter alarmiert. Nach weiteren zehn Minuten geben wir auf und fangen an zu schwimmen – ich hinter meinem abgetriebenen Windsurfmaterial her, Marius mit der Wind Weapon in Richtung Strand. Irgendwann kommt Vincent schließlich mit seinem Slalom-Equipment runtergeheizt und schleppt uns ab: „Wenn ich euch so sehe, wird mir klar, warum sich das Ding nicht durchgesetzt hat“, lacht Vinc. Am Strand folgen weitere Erniedrigungen, als uns aufmerksame Strandbesucher auf unser Scheitern ansprechen. Oli planscht derweil eifrig weiter am vereinbarten Treffpunkt und macht wahrscheinlich Fotos von Möwen, Seegrasbüscheln oder Hobbysurfern. Fest steht: Wenn wir heute überhaupt ein brauchbares Foto produzieren wollen, brauchen wir eine neue Strategie.
Mission 4: Learn to fly
Als wir 30 Minuten später nach unserem „walk of shame“ wieder bei Oli ankommen, gibt uns dieser erst mal „wertvolle“ Tipps: „Fahrt doch einfach nicht so weit raus und näher bei mir.“ Marius hat entweder ein Kabel verschluckt oder ihm schwillt gerade die Halsschlagader an. Vincent hat das Drama mitverfolgt und stellt sich entgegen seines Naturells erst mal hinten an: „Mach du erst mal, Manu!“.
Ich heize raus, peile die kleine Rampe an und setze neben Oli zum Höhenflug an. Magruder 2.0! Oli sollte besser auf Hochformat wechseln, sonst fliege ich ihm gleich aus dem Bild. „Boah, da war ja fast die Finne draußen“, grinst Oli, als mich Vincent kurze Zeit später wieder zurück zum Ufer schleppt. Müsste ich mich nicht gerade an der Fußschlaufe meines weltmeisterlichen Shuttles festkrallen, würde ich dem Typen jetzt eine klatschen.
Nachdem er Zeuge unserer „beeindruckenden“ Performance geworden ist, will auch der Meister ran – beim Ausrichten zum Beachstart schrabbt der Alumast erst mal über Vincents neues Slalombrett. Er holt dicht und gleitet – ganz Profi eben – mit seinem Lieblings-Schwiegersohn-Grinsen im perfekten Abstand an der Fotolinse vorbei. Draußen geht‘s in die Halse. Auch er hat Knoten im Hirn, aber mit seinen Baumstamm-Armen fuchtelt und hantiert er den Flügel auch dann noch umher, als er schon längst aus dem Gleiten ist. Das Ziel vor Augen erwischt es am Ende aber auch ihn. „Na Vinc, brauchst du ’nen Lift zum Strand?“, frage ich nicht ohne Schadenfreude, um noch hinzuzufügen: „Wenn du ’nen Wasserstart schaffst, geb ich dir ’ne Kiste Bier aus!“
Keine zehn Sekunden später steht Vincent an Deck, die Wind Weapon in der Hand und feiert sich ab. Bier bekommt er trotzdem keines! Der Sack hat beschissen und das Ding einfach aus dem Wasser gewuchtet. Baumstamm-Arme eben!
Mission 5: Weiterdenken
So langsam funzt die Sache: Wir nutzen die kleinen Ostsee-Kicker, um erstmalig so etwas wie Fluggefühl aufkommen zu lassen. Das Profil wirkt dabei in der Tat wie ein Tragflügel und auch wenn wir nicht wie die Jungs vom Columbia River in den Orbit schweben, merkt man doch jenen verzögerten Sinkflug, der die Wind Weapon einst so besonders machte. Manöver hingegen bleiben ein Mysterium. Bei meinen Powerhalsen verpasse ich es regelmäßig das Rigg rechtzeitig waagerecht über den Kopf zu klappen und stecke stattdessen bei Fullspeed die untere Ecke ins Wasser. Den gestreckten Flug-Köpper über den Bug bremse ich glücklicherweise mit dem Schienbein am Mast ab oder ich klemme mir die Pfoten irgendwo zwischen den Alustangen ein. Der Wechsel zur Wende bringt allerdings einen entscheidenden Fortschritt: Zwar crashe ich auch hier, liege aber zumindest in passender Wasserstart-Position, um zurück in Richtung Ufer zu starten. Als ich mal wieder unter dem Drachen hänge und gurgele, greife ich intuitiv mit der vorderen Hand an den Mast, rutsche weit nach unten und siehe da: Die Wind Weapon richtet sich auf und ich bekomme den nötigen Lift zum Wasserstart. Nach ein paar weiteren Schlägen sind die Arme von dem dicken Gabelbaum sauer, die Beine müde vom Strampeln und natürlich dem langen „walk of shame“.
Zurück am Strand werden wir mit Fragen gelöchert: Wie war‘s? Macht das Spaß? Warum seid ihr nicht geflogen? Vincent überlegt derweil laut vor sich hin, dass man sowas doch noch mal neu auflegen müsste – leichter, moderner und natürlich ohne die ganzen selbstmörderischen Features. „Eigentlich”, so meint er, „müsste das Ding doch zum Foilen ideal sein. Es liefert viel Vortrieb und zieht eher nach oben als nach vorne, das ist doch genau das, was man dafür braucht. Ich werd‘ es mal den North-Jungs vorschlagen.“
Den gestreckten Flug-Köpper über den Bug bremse ich glücklicherweise mit dem Schienbein am Mast ab
Als ich am Abend mein Mail-Postfach öffne, ploppt zwischen dem üblichen Wahnsinn eine Nachricht auf. Der Absender: Tom Magruder. Der Inhalt: „Hallo Manuel, cool, dass ihr es ausprobieren wollt, hier einige Tipps: Bevor ihr aufs Wasser geht, übt erst mal auf einem Windskater, man muss die Manöver verstehen, sonst bringt man sich in Schwierigkeiten. Beim Wasserstart unbedingt mit der vorderen Hand an den Mast greifen. Auf keinen Fall schiften wie ein normales Segel, sonst zerdeppert man sich das Brett und das Rigg liegt mit dem Profil nach unten im Wasser. Und das Wichtigste: Setzt euch ’nen Helm auf und fangt erst an mit dem Springen, wenn ihr das Ding beherrscht. Viel Spaß, Tom“
Rückblickend kann man also festhalten, dass wir zwar nicht alles richtig gemacht haben, aber ziemlich viel Spaß bei unserer Reise in die Vergangenheit hatten. Dass die Sache mit einigen "Detailänderungen" allerdings keine drei Jahre später so durch die Decke geht, hätte wohl niemand erwartet.