Statt eines Schlussstrichs setzt er sich für die kommende Saison erneut Ziele. Auf der boot Düsseldorf kündigt er an, weiterhin auf der Freestyle-Tour anzutreten. Grund genug, auf die abwechslungsreichen Gespräche des besagten Abends zurückzublicken, an dem ich versuchte, ein wenig mehr über Steven und seine außergewöhnliche Karriere herauszufinden.
Wir sitzen auf der Promenade in Westerland, auf den bequemen Sofas am Stand des surf Magazins. Vor uns die untergehende Sonne am rauen Nordseehorizont und gute 20 Knoten aus Nordwest – platt auflandig wie (fast) immer. Draußen läuft die Supersession: „What a backloop by Marcilio Browne!“, dröhnt es durch die Lautsprecher vor dem Zelt, als Steven vor uns vorbeiläuft. Er hat einen Snack in der Hand und sucht offensichtlich ein Plätzchen zum Essen, um sich zurückzulehnen – der Belgier hat immerhin zehn Tage Sylt World Cup hinter sich.
Er ist sichtlich begeistert, als ich ihn zu uns in das gemütliche Zelt winke. Der 37-Jährige ist heute, am vorletzten Tag des Worldcups, Dritter im Freestyle geworden. Ich gratuliere ihm und biete ein Bier an, auch wenn ich weiß, dass er eigentlich äußerst gesundheitsbewusst lebt: Zuhause mit seiner Familie ernährt er sich nahezu gänzlich vegan, ist topfit und eigentlich immer im Training. Denn soweit ich weiß, trainiert er mittlerweile sogar parallel auch auf dem iQFoil – mit dem Ziel Olympia.
37 - im Freestyle ein hohes Alter
Doch ich denke, heute stehen die Chancen hoch, dass er Ja sagt. Denn der World Cup ist morgen vorbei, und er ist erneut auf dem Podium gelandet – über zehn Jahre nach seinem Weltmeistertitel. Und ich weiß auch, dass Steven dann ab und zu doch ganz gerne mal feiert. Er sagt Ja, wir stoßen an.
Siebenunddreißig … überlege ich, das ist ein hohes Alter für einen Freestyler. Familienvater mit Haus und Hof. Vor über zehn Jahren war er bereits Weltmeister in der Disziplin – und er ist immer noch hier, obwohl die Tour und die Disziplin in den letzten Jahren nicht gerade lukrativer wurden: „Es macht einfach viel zu viel Spaß, ich liebe Windsurfen, vor allem Freestyle, und irgendwie auch den Wettkampf, deswegen bin ich noch hier. So simpel ist das. Mir macht es zu viel Spaß, um einfach damit aufzuhören, den Schlussstrich zu setzen“, erklärt Steven, nimmt einen Schluck von seinem Bier und schaut lange hinaus auf die raue Nordsee.
Mir macht es zu viel Spaß, um einfach damit aufzuhören”
16 Surftage im Jahr und Dritter in der WM-Wertung
Da draußen ist er schon etliche Freestyle-Wettkämpfe gefahren und hat hier 2011 seinen Weltmeistertitel entgegengenommen: „Hier, in diesen unberechenbaren Nordsee-Bedingungen, kann ich mit meiner langjährigen Erfahrung punkten. Ob du es glaubst oder nicht: Ich zähle gerade mal 16 Surftage dieses Jahr. Ich hatte so gut wie keine Zeit zu trainieren, weder Freestyle noch IQ-Foil. Ich habe nur gearbeitet und stehe jetzt wieder auf dem Freestyle-Podium – das ist mir schon irgendwie fast unangenehm vor den anderen, die das ganze Jahr trainieren.“
Unangenehm muss ihm das nicht sein, finde ich. Aber es ist eben schon außergewöhnlich: „Der belgische IQ-Verband fördert mich nicht mehr“, fährt Steven fort, „ich habe da also keine finanzielle Unterstützung mehr und kann keineswegs vom Windsurfen leben. Das ist nicht mehr wie früher. Ich arbeite aktuell im Lager einer Logistikfirma und nebenher repariere ich in meiner Garage Boards“, berichtet Steven stumpf, jedoch keinesfalls betrübt. Er hat diese pragmatische Art an sich: Er ist ein echter Macher, doch auf eine nette, gelassene Art und Weise.
Weniger reden, mehr machen
Ich weiß noch damals, als das mit dem Foilstyle aufkam und ich mit Steven in seiner Garage (die eher einer perfekt sortierten und ausgestatteten Board-Schmiede glich) an meiner Foilbox rumgeschliffen habe. Da war ich mir unsicher, ob ich das mit dem Springen auf dem Foil wirklich probieren sollte, da ich es optisch nicht so elegant und irgendwie uncool fand. Steven konnte damals selbstverständlich nach drei Tagen schon den Burner und Switch Kono auf dem Foil. Er war richtig euphorisch und begeistert, mir auch seine Foilbox der Marke Eigenbau ins Board einzusetzen. Auf meine unterschwelligen Randbemerkungen, dass die gesprungenen Tricks mit dieser sperrigen, unästhetischen Sense unterm Board nicht so ansehnlich wären, ist er zuerst gar nicht eingegangen, meinte dann aber irgendwann trocken: „Es muss doch nicht immer gut aussehen. Du wirst schon merken, es macht tierisch Spaß und erfüllt seinen Zweck, dass wir auch bei böigen zwölf Knoten auf dem Baggersee unsere Moves springen können. Und jetzt lass mich weitersägen, ich muss mich konzentrieren. Das soll bis heute Abend fertig werden, muss ja noch trocknen. Du willst doch am Wochenende aufs Wasser, oder?“
Und genau das ist eben Steven. Da wird nicht lange diskutiert. Er nimmt die Dinge selbst in die Hand, um voranzukommen. Was die anderen denken, wie etwas im Detail währenddessen aussieht oder bei anderen rüberkommt, ist ihm ziemlich egal. Er macht das, was gemacht werden muss.
Van Broeckhoven kennt seinen Körper und sein Material bis ins Detail
Somit hat er auch generell eine andere Herangehensweise an die Disziplin Freestyle als die meisten anderen. Ich meine, iQFoil und Freestyle? Unterschiedlicher können zwei Disziplinen kaum sein. Steven verbindet sie einfach beide. Er weiß zum Beispiel in einem Freestyle-Lauf ganz genau, wann er was und wo machen muss, um die nötigen Punkte für den Sieg zu sammeln. An Land, vom Erscheinungsbild und Charakter, würden die meisten ihn wahrscheinlich nicht auf Anhieb als „Mr. Freestyle“ bezeichnen. Doch er ist einer der talentiertesten Akrobaten mit Brett und Segel – und im Vergleich zu den meisten anderen Talenten im Freestyle ist er dazu noch sehr diszipliniert, kennt seinen Körper und sein Material bis ins kleinste Detail.
Sein Stil wirkt vielleicht nicht ganz so lässig, locker und draufgängerisch wie der von den jungen Wilden, aber dafür sehr kraftvoll, zielorientiert und höchsttechnisch. Er wird für seinen Stil und seine pragmatische Herangehensweise von den unorthodoxen, wilden Freestylern keinesfalls belächelt, sondern ganz im Gegenteil: hoch respektiert, gar bewundert. Denn gleichzeitig ist er bodenständig, freundlich und hilft jedem immer gerne weiter. Hin und wieder dringt dann diese gewisse Coolness in ihm durch, und man merkt, dass ihm eigentlich vollkommen egal ist, was die anderen tun und denken.
“Ich setze mich nicht mehr unter Druck”
Viele andere Freestyler auf der Tour sind junge, tiefenentspannte Typen, für die das Leben kein Rätsel ist, so richtig professionell sind die meisten aber nicht. Die leben und surfen so vor sich hin, tragen keine große Verantwortung. Einige halten sich mit kleinen Sponsorengeldern über Wasser, bei anderen läuft es auch einfach so. Viele wollen aber auch gar nicht mehr, da sie auf der Sonnenseite des Lebens stehen und Selbstdarstellung für alberne, externe Sponsorendeals oftmals sogar belächeln: „Die machen zwischendurch Hotel Mama, dann das Boardbag packen und wieder los. So läuft es doch bei fast allen“, meint Steven und nimmt einen großen Bissen von seinem vegetarischen Kebab.
Mit ihm konnte man wirklich vernünftig arbeiten” (Martin Brandner über Steven van Broeckhoven)
Und das meint er keinesfalls abwertend: „Das war bei mir lange Zeit genauso“, fährt er fort, „erst als ich 2011 nach meinem Weltmeistertitel den Vertrag von JP und NeilPryde unterschrieb, habe ich es als richtigen Job gesehen und konnte auch etwas beiseitelegen und anfangen, mir etwas aufzubauen.“ Martin Brandner, der damalige Brandmanager von JP-Australia, meinte einmal, dass von allen Teamfahrern, mit denen er jemals zusammengearbeitet hat, Steven einer seiner liebsten war: „Mit ihm konnte man wirklich vernünftig arbeiten“, erklärte er in einem Interview.
„Viele behaupten immer, meine damaligen Sponsoren hätten mich zu sehr unter Druck gesetzt – und deswegen wäre ich nicht erneut Weltmeister geworden. Das stimmt nicht ganz: Ich habe mich nach dem Titel selbst unter Druck gesetzt“, berichtet Steven schwermütig, „aber die Zeiten sind jetzt vorbei, ich setze mich nicht mehr unter Druck und deswegen schneide ich plötzlich auch wieder besser ab. Ich bin sehr glücklich über die Beziehung zu meinen aktuellen Sponsoren GunSails und Starboard und werde mit ihnen nächste Saison wieder angreifen. Aber ohne Druck, just for fun!“
Arbeitermentalität trifft auf Talent
Steven hat im tiefsten Inneren, trotz langer Profikarriere und Superstar-Status nach dem Weltmeistertitel, diese Arbeitermentalität in sich. Und das hat ihn in Kombination mit seinem Talent mit Brett und Segel weit gebracht: „Wir sind ganz normale Leute aus dem belgischen Binnenland. Ich habe nach der Schule eine Ausbildung zum Klempner gemacht und direkt angefangen zu arbeiten.“ Weit weg von der Küste ist er aufgewachsen, er hatte nie die Möglichkeit, als Jugendlicher regelmäßig zu trainieren: „Hunderte von Stunden habe ich mit Leichtwind-Tricksen auf dem heimischen Baggersee verbracht, denn da gibt’s nur ziemlich selten Gleitwind. Trotzdem hatte ich aus irgendeinem Grund immer nur Windsurfen im Kopf, habe im Surfclub die Poster an der Wand von Josh Stone bewundert. Irgendwann nahmen mich Bekannte vom See dann am Wochenende regelmäßig mit zum Brouwersdam nach Holland. Dort konnte ich endlich anfangen, bei stärkerem Wind meine Tricks zu üben“, erzählt Steven.
Seine Eltern haben ihn währenddessen zwar immer bestmöglich unterstützt, waren aber selbst keine Windsurfer: „Sie ließen mich immer das machen, was ich wollte, und haben mich nie in eine bestimmte Richtung gedrängt. Das ist für mich die wertvollste Unterstützung, die man als Kind und Jugendlicher bekommen kann. Ich versuche das Gleiche nun bei unserem kleinen Sohn umzusetzen“, beteuert Steven und setzt zum finalen Schluck aus seiner Dose an. Dann macht er seine Jacke zu und steht auf: „Ich muss noch mein Material vom Strand holen, wird gleich dunkel.“ Und zack, weg ist er. Das meine ich damit, Steven fackelt nicht lange rum. Doch jetzt dreht er sich auf dem Weg nach draußen nochmal um: „Danke für das Bier, sehen wir uns später in der Stadt?“
Er meint das Bistro, indem sich die Worldcup-Szene abends standesgemäß trifft. Heute ist der letzte Abend. Da könnte einiges los sein, rechne ich mir aus.
Seine Familie ist für Van Broeckhoven immens wichtig
Ein paar Stunden später treffe ich Steven inmitten des Sylter Nachtlebens wieder. Er steht in der hintersten Ecke und sieht ein wenig müde und gelangweilt aus. „Mir gefällt die Musik irgendwie nicht, ich komme nicht richtig rein“, schreit er mir ins Ohr, „so wie mein Sohn letztens, beim Ballett“, fährt er lachend fort, „der hatte Lust auf Tanzen, und dann hat meine Frau ihn einfach blind irgendwo angemeldet. Nach der ersten Stunde stellte sich heraus, dass es sich um einen Ballettkurs handelt.“ Nun stehen wir lauthals lachend in der hintersten Ecke des Bistros, während vor uns wild getanzt wird. Steven scheint immer nur seine Familie im Kopf zu haben. Er ist zwar gerade allein hier auf Sylt – aber hat Frau und Kind, wenn es passt, immer mit dabei. Ihm macht es einfach Spaß, zu den Events zu kommen – und wenn‘s sein muss, eben auch mal allein. Obendrauf verdient er durch seine guten Resultate dabei immer noch ein bisschen Preisgeld.
Auch wenn es gerade nicht so aussieht, trägt er im Vergleich zu den meisten anderen, die hier wie wild um uns herumtanzen, große Verantwortung. Dass es seiner Familie gutgeht, hat für ihn immer oberste Priorität. Direkt an nächster Stelle steht das Windsurfen, dass er weiterhin aufs Wasser kommt und da draußen Spaß hat. Und für ihn bedeutet das eben nicht, allein, am Ende der Welt, im Sonnenuntergang seine Manöver zu zelebrieren – sondern sich weiterhin auch im Wettkampf mit anderen bei zehn Grad im Sylter Shorebreak zu messen. Deswegen ist er hier.
Van Broeckhovens Geschichte ist schlicht, aber außergewöhnlich
Wir stehen mittlerweile im ruhigeren Nebenraum des Bistros, die Musik nebenan ist dem Herrn weiterhin nicht recht. Wie und wann das bei ihm damals alles genau angefangen hat, mit den Wettbewerben und den guten Resultaten, daran kann er sich gerade nicht so genau erinnern: „Puh, das ist so lange her. Aber ich weiß noch, bei meinem allerersten Wettkampf, dem Europacup in Tarifa 2008, bin ich auf Anhieb Vierter geworden.“
Ich zog los, um Profi zu werden. Ich dachte mir: Wenn, dann jetzt – einen Versuch ist es wert.”
Auf Anhieb Vierter, grüble ich, daran arbeiten andere Jahre, um unter die Top Fünf zu kommen: „Ich kam aus dem Urlaub, bin zu meinem Chef und habe gekündigt. Ich war bereits Anfang 20, hatte schon ein paar Jahre gearbeitet, etwas Geld angespart und einen kleinen Van gekauft. Ich zog los, um Profi zu werden. Ich dachte mir: Wenn, dann jetzt – einen Versuch ist es wert.“
Und das war es definitiv: Im Jahr darauf, 2009, holt Steven den ersten von fünf Europameistertiteln und wird gleichzeitig Ranglistenfünfter im Weltcup. Seine Geschichte ist schlicht, aber außergewöhnlich. Denn sie ist kaum zu vergleichen mit der der meisten anderen Freestyle-Supertalente, die an den Stränden der Topspots aufgewachsen sind und bereits als Teenager zu den Events nach Europa geflogen wurden. Man sieht auch hier, jeder kann es schaffen.
In diesem Moment lauscht Steven einem Song, der ihm gefällt, gleichzeitig läuft sein Landsmann und Freestyle-Weltmeister von 2019, Yentel Caers, ins Bistro ein – Steven stürmt los, wir verlieren uns im Gedränge.
Late-Night-Dinner bei McDonald’s
Am Ende des Abends treffe ich ihn bei McDonald´s wieder – der einzige Ort in Westerland, an dem man zur späteren Stunde noch etwas zwischen die Zähne bekommt. Wie ein kleines Kind steht er vor der Anzeigetafel und wartet, bis seine Bestellnummer grün aufleuchtet: „Biieeeep, Nummer 218!“ Er schaut auf seinen Kassenbon und wird ganz nervös, denn dort steht die 219. Jetzt kaufe ich ihm ab, dass er mindestens zehn Jahre nicht bei McDonald´s war.
Würde man nur das klitze-kleinste Ereignis in meiner Karriere wegstreichen, dann wäre ich jetzt nicht immer noch hier.
Als wir in unseren Vegan TS beißen, ich ihn auf die morgige Siegerehrung anspreche und ihm noch einmal zu seinem dritten Platz gratuliere, wird der sonst so pragmatische Steven beinahe ein bisschen emotional. Er bedankt sich und spricht dann nachdenklich aus dem Nichts: „Würde man nur das kleinste Ereignis in meiner Karriere wegstreichen, dann wäre ich jetzt nicht hier. Würde gerade nicht zum ersten Mal einen veganen Burger bei McDonald’s essen, und dann stünde ich morgen nicht noch einmal mit Pokal in der Hand auf dem Weltcup-Podium – eigentlich hat doch bis jetzt alles perfekt zusammengespielt.“ Wow, so tiefsinnig kenne ich ihn gar nicht.
Seine frühen Filme sind unter jungen Freestylern Kult
Wir plaudern anschließend noch ein wenig über Gott und die Welt, über seine früheren Filmprojekte mit Michael Sumereder und Andraz Zan, von denen viele Freestyler meiner Generation immer noch große Fans sind. Der sonst so effiziente Steven hat an diesem Abend Zeit, Zeit zu plaudern. Denn wir haben heute Abend soviel aus der Vergangenheit wiederaufleben lassen, dass er sich mittlerweile wieder richtig in die Situationen hineinversetzen kann und, ungezwungen im leichten Ton, davon berichtet.
Die Bedienung muss uns beim Hinausgehen die Tür von innen aufschließen – selbst McDonald’s schließt jetzt seine Pforten. Wir treten vor die Tür, ins Freie. Der kalte Nordseewind peitscht uns ins Gesicht. Unter den Lichtkegeln der Laternen sprüht der Regen: „Also dann, gute Nacht!“ Steven zieht seine schwarze Kapuze über und verschwindet in den dunklen Gassen von Westerland.