“Lass den Quarzsand hier!“, steht auf einem unübersehbaren Schild am Strand von Mari Ermi. Beobachtete Verstöße soll man sogar telefonisch melden: „Pronto Spaggia!“ Hier gibt es keinen gewöhnlichen Sand und auch keinen gewöhnlichen Spot. Frank Maibach stellt euch das Alternativrevier im Westen Sardiniens vor.
Mari Ermi an der Westküste Sardiniens hat Speedpotenzial bei Süd-Ost. Das steht nirgendwo, weshalb meine Frau Petra und ich umso überraschter waren, solche Traumbedingungen hier am „Spiaggia di Muras“ anzutreffen. Vor dem flach abfallenden türkisfarbenen Traumstrand befinden sich direkt nebeneinander drei Agricampeggios (rustikale Campingplätze), die drei Brüdern gehören. Es ist schwer, sich für einen zu entscheiden, zumal alle drei traumhaft liegen und direkten Strandzugang bieten.
In jedem Fall fühlt es sich immer an, wie fast wild am Strand stehen. Natur pur, nur das Wesentliche. Puristisch! Einfache Toiletten, Duschen und Womo-Wasser und -Entsorgung sind vorhanden. Und sogar eine Stranddusche! Das reicht. Keine Einkaufsmöglichkeiten. Das muss man schon vor der Anreise erledigt haben. Wer nur etwas Luxus sucht oder gar Animation gut findet, der kommt besser nie hierher! Wir lieben es.
Der Agricampeggio von Giuliano Nardi allerdings – ganz rechts – bietet abends derart gute, teilweise skurrile Pizzen, z. B. mit selbst gemachtem sardischen Honig verfeinert, im Holzofen auf einem alten Einachsanhänger, dass man schon alleine wegen eines solchen begnadet belegten Teigfladens hier länger verweilen möchte als zunächst geplant. Umso mehr dann, wenn die Windvorhersage Südost ankündigt, was definitiv Flachwasserheizen oder Tricksen ermöglicht – und wie!
Glatte Speedpiste mit Laborbedingungen
Der Scirocco kommt schräg ablandig aus Südost und wird stärker und konstanter, je weiter man rausfährt. Aber auch in Ufernähe, wo das Wasser noch flacher wird, lässt es sich fantastisch speeden und gerade hier wie bei Laborbedingungen auf nahezu vollkommen glattem Wasser halsen. Anschließend verlässt man den Uferbereich schräg in Richtung offenes Meer. Der Speedrausch sollte einen nicht vergessen lassen, dass man sich sehr schnell immer weiter vom Ufer entfernt, weshalb sich im beginnenden Chop alsbald eine Halse empfiehlt, die man volle Kanne in Richtung offenes Meer carvt. Zugegeben, das ist der Moment, der einem Respekt einflößt, wenn man hier ganz alleine draußen ist und das Revier zum ersten Mal besurft. Man sollte grundsätzlich immer jemanden haben, der zumindest vom Ufer aus das Geschehen im Blick hat. Materialbruch bei ablandigen Wind, das muss nicht sein.
Die Bedingungen waren an diesem Nachmittag traumhaft. Aber außer mir weder Windsurfer noch Kiter weit und breit. Heizen bis eine Stunde vor dem Anheizen des Pizzaofens war ausreichend, um den Tag in bleibender spezieller Erinnerung zu behalten.
Gegen 18 Uhr bestellt man nach dem ersten Bier seine Pizza, die man dann eine halbe Stunde später am Holzofenanhänger für zehn Euro abholen kann. Einziges Manko: Bei einsetzender Dunkelheit fallen schlagartig Massen von Stechmücken ein. Hier helfen nur abbrennbare Insektenspiralen: Zwei auf dem Tisch und zwei darunter, dann werden nur die anderen gestochen. Was für ein Abend, wenn die Sonne den Horizont berührt!
Der Scirocco wird in einem Tal beschleunigt
Nach dem überraschenden offshore Abenteuer stellt sich alsbald die Frage, warum ausgerechnet an der Westküste Sardiniens Südostwind diesen naturbelassenen Quarzsandstrand derart gut belüftet. Der Grund heißt „Campidano“: Das ist ein etwa 110 Kilometer langer und 12 bis 25 Kilometer breiter Tieflandstreifen, der wie ein langes Tal von Cagliari bis nach Oristano den gesamten Südwesten Sardiniens in Windrichtung des Scirocco durchzieht, wodurch dieser dann ungehindert die Halbinsel Sinis trifft, auf der Mari Ermi und weiter nördlich Putzu Idu liegen (Revierbericht in surf 8/2021).
Von diesem riesigen quer über das südliche Sardinien verlaufenden Windkanal profitiert insofern auch der gesamte Golf von Oristano, zum Beispiel Torre Grande im Norden des Golfs, wo es bei westlichen Winden Flachwasser gibt. Bei Scirocco ändert sich daran wenig. Allerdings weht der Scirocco seltener als Winde aus westlichen Richtungen. Voraussetzung für den Südost ist ein Tief über dem westlichen Mittelmeer und ein Hoch über dem östlichen Mittelmeer, perfekt nachzulesen in der Special Wind Edition in surf 11-12a/2022.
Infos Mari Ermi
Mari Ermi funktioniert natürlich bestens auch bei SSW bis NW, was sich hier öfters einstellt. Dann sind je nach Windstärke Bump and Jump bis gemäßigte Wave-Bedingungen angesagt. Das Freeride- bzw. Waveboard ist dann genau richtig. Jenseits der sechs Beaufort sollten nur noch echte Waver die Elemente stürmen. Damit sind wir schon bei der besten Reisezeit: Die beste Windausbeute gibt es im Frühjahr und im Herbst. Und die Temperatur lag Ende Oktober 2022 an einem Drittel unserer Tage auf Sardinien bei über 25 Grad. Von der Hauptsaison ist schon alleine deshalb abzuraten, weil ihr euch mit dem Surfgeraffel ohnehin nicht unfallfrei durch die Massen von sonnenhungrigen Leibern bis zur Wasserlinie durchkämpfen könnt. Für die Anreise nach Mari Ermi solltet ihr folgende GPS-Daten (Dezimalgrad) ins Navi eingeben: 39.963694, 8.405166. Dann kommt man beim eingangs erwähnten Agricampeggio mit den genialen Pizzen an. Nehmt die weiter südlich gelegene Anfahrt, soweit mehrere Routen vom Navi angeboten werden.
Wenn ihr also mal auf Sardinien seid und Lust habt, etwas Neues zu entdecken, stattet Mari Ermi – und Giuliano mit seinem Pizzaofen – mal einen Besuch ab. Ihr werdet es nicht bereuen.