Mario Witt ist kein Windsurf-Pro, kein Produktdesigner oder Shaper und keine andere Größe des Windsurf-Business. Mario Witt ist Koch. Trotzdem hat seine Passion Windsurfen über Umwege dazu geführt, dass ihn heute fast die gesamte Worldcup-Szene kennt.
Jeden Tag steht Mario hinter seinem Crêpe-Eisen an der Strandpromenade in Westerland, seine „Crêperie am Meer“ liegt direkt neben dem Hotel Miramar und wenn er seinen Blick schweifen lässt, über die Schlange der wartenden Menschen hinweg, hinüber zu den Strandkörben und den Raubmöwen, die den Touristen das Mittagessen abspenstig machen wollen, dann blickt er auf die Nordsee. Mario hat ein fast jugendliches Gesicht, das viel lacht. Meistens trägt er Jeans und ein Surf-Shirt, darüber ein offenes Hemd, welches im Westwind flattert. Mit seiner Baseball-Cap, welche er Tag und Nacht trägt, sieht er aus wie ein Surfer-Dude Mitte 30. Erst wenn er die Mütze abnimmt, was eigentlich nur vorkommt, wenn er in seinen Neo schlüpft, geben die grauen Schläfen einen Blick auf die Jahrzehnte preis, die er schon erlebt hat.
Graham Ezzy kennt Mario, seit er vor vielen Jahren das erste Mal beim Sylter World Cup dabei war – er hat ihm seine spannende Geschichte entlockt.
Mario, beim World Cup 2017 hast du gemeinsam mit deinem Freund Thommy in der angesagten Shriro-Bar für das Fahrerfeld den Kochlöffel geschwungen. Das Sushi war der Knaller und die wenigsten hätten sich sowas leisten können. Warum hast du das gemacht?
Ich wollte, dass es beim World Cup Sylt mal nicht um Merchandising, Bierstände und Autoverkäufe geht. Es ist ein Windsurf-Event! Ich wollte mal was nur für die Windsurfer machen.
In deinen Aussagen schwingt eine große Portion Idealismus mit. War es genau dieser Idealismus, der dich damals nach Sylt gebracht hat?
Ich bin in der DDR aufgewachsen, zu einer Zeit als Windsurfen gerade durch die Decke ging. Weil wir nahe an der Grenze wohnten, konnten wir das West-Fernsehen empfangen. Es gab da eine Windsurf-Telefitness-Sendung. So was zu sehen und keinen Zugang zum Sport zu haben, war hart. Es gab zwar ein Serienboard in der DDR, den Delta, aber das Ding kostete zu viel. Eigentlich war das Leben in der DDR nicht teuer, für Freizeitartikel galt das leider nicht. Ein Delta kostete einige tausend Ost-Mark, umgerechnet ungefähr sechs Monatsgehälter. Eine Friseurin verdiente damals vielleicht 300 Ost-Mark, wer 1000 verdiente war schon gut situiert. Also musste man es selbst bauen.
Wie kann man sich den Weg von einer TV-Serie zum selbstgebauten Brett vorstellen?
Mein Vater war ein begnadeter Handwerker. Er lieh sich ein Delta-Board für eine Woche aus und baute eine Form. Wir organisierten uns die Materialien, von denen wir dachten, dass es damit gehen müsste. Als die Form fertig war, kamen Glasmatten rein und schließlich expandierender Schaum.
An die richtigen Materialien zu kommen, war oft unmöglich. Wie habt ihr das überhaupt geschafft?
Wer in der DDR kein Netzwerk hatte, war verloren. Alles lief nach dem Motto: „Hast du was für mich, hab’ ich was für dich!“ Das Problem war, dass wir nicht sehr viel hatten – also musste man lernen, Dinge selbst zu bauen und dann wieder zu tauschen. Wir wussten, dass wir Styropor brauchen würden, also suchten wir erst mal, wo dieses Zeug überhaupt überall drin war. Wir entdeckten es in den Kühlcontainern von Zügen. Der Rest ging über Beziehungen um viele Ecken.
Wie war die Jungfernfahrt?
Und ob! Ich erinnere mich noch wie ich das Board in den Schlaufen stehend mit den Füßen steuern konnte und an die völlig neue Geschwindigkeit. Da fing der Spaß erst richtig an.
Dagegen war der Bau eines Segels wahrscheinlich vergleichsweise einfach, oder?
Wo ich herkomme, gab es ein großes Leichtathletikzentrum. Von den Stabhochspringern kauften wir einen Stab, der unser Mast wurde. Das Problem: Der Stab biegt sich wie ein Halbkreis, für ein Windsurfsegel war dieser viel zu weich. Also mussten wir uns was anderes einfallen lassen. Mein Vater arbeitete im Bergbau, 800 Meter unter der Erde. Da gab es ein Werkzeug, um lose Steine von der Decke zu klopfen, so eines benutzten wir schließlich als Mast. Gabelbäume bauten wir aus Hochsprung-Latten, als Belag verklebten wir das Leder vom Wartburg-Amaturenbrett. Die Teile für den Mastfuß kamen von der Drehbank und die Mütter unserer Surfgang nähten die Segel aus Windjackenstoff. Jedes Teil war selbst gebaut – bis auf den Powerjoint, den gab es tatsächlich als Ersatzteil für das Delta im Sportgeschäft.
Hattest du Zugang zu Magazinen aus dem Westen?
Manchmal bekam man ein altes Heft irgendwoher. Schau mal hier (Mario holt ein altes Foto hervor), das ist das erste Funboard, das ich mir gebaut habe. Ich schnitt ein Bild aus der surf aus, projizierte das Brett in der angegebenen Länge an die Wand, kopierte die Outline und baute es nach. Sogar die Sticker hab’ ich nachdesignt: „Windsurfing Hawaii“. Das komplette Brett entstand in der Garage. Damit sind wir oft an die Müritz gefahren, dass war der einzige See im Binnenland, wo es bei starkem Wind sowas wie Wellen gab. Surfen auf der offenen Ostsee war damals ja verboten wegen der Fluchtgefahr. Dann fiel zum Glück die Mauer.
Wie alt warst du da?
1989 war ich gerade 18 Jahre alt und mir war klar: Ich muss ans Meer. Aus dem surf Magazin kannte ich Jürgen Hönscheid und Sylt. 1991 packte ich meinen Surfkram auf das Auto meines Vaters und fuhr mit meiner Frau Ivonne dorthin.
Wie habt ihr dort Fuß gefasst?
Ich hatte ja eine Ausbildung zum Koch gemacht, in einem Hotel im Osten, in dem viele Besucher aus Westdeutschland wohnten. Dadurch hatte ich Zugang zu vielen Dingen, die man im Osten normalerweise gar nicht kaufen konnte. Unser Leben in der DDR war nicht schlecht, es war eine glückliche Zeit. Trotzdem wollte ich natürlich, wie fast jeder im Osten, unbedingt „rübermachen“. Auf Sylt hatte ich sofort das Gefühl, dass ich hier alles erreichen kann. Ich habe in einem Restaurant, dessen Besitzer auch Surfer war, als Koch gearbeitet, Ivonne im Service – am Anfang oft zwölf Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche.
Als ich nach Sylt kam, stellte ich fest: Sylt ist wie die DDR
Hört sich nicht nach Traum an!
Doch, denn ich war fast in jeder Mittagspause zwei Stunden surfen und hatte nette Chefs, die Freunde wurden.
Wie war dein erster Eindruck? Sylt gilt als ziemlich elitär – hatte man es da als „Ossi“ nicht erst mal schwer?
Schwer war für mich nur der Weg durch den Shorebreak auf dem Wasser (lacht). Von zehn Versuchen habe ich im Schnitt einmal geschafft. Im Alltag war das kein Problem. Sylt ist ein bisschen wie die DDR.
Wie meinst du das?
Abgesehen davon, dass ich ein kleines Fischerdorf erwartet hatte und beim Anblick der Hochhäuser in Westerland erst mal überrascht war, haben uns alle super aufgenommen. Nach ein paar Wochen haben mich die Leute überrascht gefragt: „Was, du kommst aus dem Osten?“ Aber man wurde nur an seiner Arbeit gemessen, alle haben sich gegenseitig geholfen, ohne gleich Geld dafür zu verlangen.
Wie ist das heute?
Natürlich ist auch hier, wie wahrscheinlich überall, der Ton rauer geworden. Aber unter den Einheimischen ist der Zusammenhalt nach wie vor da.
Wie war es, seine Idole plötzlich live am Strand beim World Cup zu sehen?
Im Sommer davor bekam ich Post und wurde zum Wehrdienst einberufen. Beginn: 1. Oktober. Ich dachte nur: „Das geht nicht, da fängt der World Cup an!“ Also bin ich nicht hingegangen bis sie die Feldjäger geschickt haben. Als ich im Zug saß und wegfuhr, habe ich Rotz und Wasser geheult. Nach zwei Wochen bei der Bundeswehr habe ich den Wehrdienst verweigert und kam zum Zivildienst zurück nach Sylt.
1998 hast du deine Crêperie eröffnet.
Ich hatte eine Zeit lang Eis am Strand aus dem Bauchladen raus verkauft und dann stand da dieser Laden leer. Selbständig sein, das wollte ich schon immer und es war ein Glücksfall, dass wir die Chance bekommen haben.
An einem windlosen Tag muss man die Worldcup-Fahrer besser nicht im Fahrerzelt oder am Strand suchen, sondern bei dir. Warum kommen sie alle?
Das hat sich über die Jahre so ergeben. Man hat immer gesehen, dass hier Surfer arbeiten – um die Ecke stapeln sich die Bretter. Auch heute geht jeder Mitarbeiter surfen, wenn die Bedingungen gut sind, zur Not müssen die Leute eben länger warten auf ihr Essen, aber es kann nicht sein, dass Wellen sind und wir nicht surfen gehen können. Und natürlich habe ich auch den einen oder anderen Kaffee für die Worldcupper spendiert – einfach, weil ich weiß, wie schwierig es ist, sich als Profi-Windsurfer durchzuschlagen. Unterm Strich denke ich aber, dass die Surfer mich für meine Arbeit respektieren und deshalb immer wieder kommen. Vielleicht liegt’s auch daran, dass die Crêperie Wifi-freie Zone ist. Überall sitzen die Leute nur noch rum und starren aufs Smartphone statt miteinander zu reden, das macht mir Angst. Wer zu uns kommt, soll gut essen, seinen Kaffee genießen, reden und aufs Meer schauen.
Würdest du rückblickend irgendwas anders machen?
Nein. (Überlegt) Doch! Mehr Zeit mit meinem Sohn verbringen. Ich habe sehr früh geheiratet und bin mit 22 Vater geworden und wahrscheinlich habe ich zu viel Zeit auf dem Wasser verbracht, ohne Rücksicht auf die Familie. Bei meiner Frau muss ich mich auch heute noch dafür entschuldigen. Und weil ich so versessen war, habe ich es auch zu sehr forciert, meinen Sohn zum Surfen zu bringen.
Surft er denn mittlerweile?
Der Ergebnis war, dass Jason ein super Fußballer geworden ist (lacht). Er lebt in Hamburg, aber er weiß wie man surft und wenn er mal zu Hause ist und die Wellen laufen, ist er auf dem Wasser.
Ich nehme an, der Namens-Vorschlag kam von dir?
Als wir damals auf dem Weg zum Krankenhaus waren, gingen wir davon aus, dass es ein Mädchen wird. Dann kam der Doktor: „Herzlichen Glückwunsch zu ihrem Sohn!“ Zwei Tage hatten wir keinen Namen, dann kam ich nach Hause und die neue surf lag auf dem Tisch. Auf dem Titel ein Bild von Jason Polakow. Meine Frau fand’s okay, und das war’s...
2016 hast du das erste Mal den Spieß umgedreht und bist der Einladung von Leuten wie Robby Naish & Co gefolgt und nach Maui gereist. Mittlerweile gefällt es dir dort richtig gut.
Mal Hookipa zu surfen, war das Einzige, was auf meiner persönlichen Surf-to-do-Liste noch gefehlt hat. Schon oft hatten Robby und Victor Fernandez mir angeboten, sie mal auf Maui zu besuchen und es wäre dämlich gewesen, es nicht irgendwann mal zu machen.
Denkst du manchmal, dass das alles ein Traum ist? Früher hattest du keine Chance, an der Windsurfszene teilzuhaben, heute bist du mit allen per du und wirst auf Maui von Windsurf-Ikonen mit ihrem privaten Material ausgestattet.
Als kleiner Junge hätte ich mir das nie vorstellen können. Leute, die ich früher als Poster an der Wand hängen hatte, kommen zu mir zum Essen und laden mich in ihr Zuhause ein. Dann dort zu sein, das Auto voll mit feinstem Windsurf-, Kite- und SUP-Equipment und jeden Tag zu surfen, ist schon unglaublich. Ich bin den Jungs sehr dankbar für die Einladung. Aber letztlich merkt man, dass das alles nur Menschen sind. Jeder von denen ist nahbar und am Ende eines langen Arbeitstages haben sie alle die gleichen Rückenschmerzen wie jeder andere (lacht).
Danke Mario für das Interview!
Vor Marios Creperie Am Meer steht auch eine Webcam. HIER könnt ihr direkt die Bedingungen checken.